Führungsphilosophie statt Management-Tricks

Führungsphilosophie statt Management-Tricks

Der Schlüssel zu nachhaltigem Erfolg

Die Anforderungen an Führungskräfte haben sich in den letzten Jahrzehnten radikal gewandelt. Dennoch basieren viele Leadership-Programme weiterhin auf überholten Modellen, die für eine statische, vorhersehbare Welt konzipiert wurden. In einer globalisierten, digital vernetzten und zunehmend volatilen Arbeitswelt sind die traditionellen Erfolgsfaktoren für Führung nicht nur unzureichend, sondern mitunter hinderlich.

Eine groß angelegte Studie mit über 4.000 Unternehmen zeigte, dass 58 % der befragten Organisationen erhebliche Talentlücken in kritischen Führungspositionen haben (Gurdjian, Halbeisen & Lane, 2014). Trotz erheblicher Investitionen in Führungskräfteentwicklung – von klassischen Seminaren über 360°-Assessments bis hin zu Coaching-Programmen – gelingt es Unternehmen nicht, genügend fähige Leader für die Zukunft aufzubauen.

Doch woran liegt das? Warum wächst die Diskrepanz zwischen den Anforderungen an Führungskräfte und den Fähigkeiten, die in herkömmlichen Programmen vermittelt werden? Und vor allem: Was unterscheidet erfolgreiche Leader, die sich in einer hochkomplexen Welt behaupten, von jenen, die scheitern?

Die Krise der Führungskräfteentwicklung: Warum klassische Ansätze nicht mehr greifen

Viele Leadership-Modelle stammen aus einer Zeit, in der Unternehmen hierarchisch und stabil strukturiert waren. Führung wurde als linearer Prozess verstanden: Eine Person an der Spitze trifft Entscheidungen, delegiert Aufgaben und setzt Ziele um. Dieses Modell passt jedoch nicht mehr zu einer Realität, die von Dynamik, Unsicherheit und radikalem Wandel geprägt ist.

Forschungsergebnisse aus der systemischen Führungstheorie (Schreyögg & Koch, 2020) sowie Erkenntnisse der Komplexitätstheorie (Uhl-Bien 2009) zeigen, dass effektive Führung heute weniger auf Kontrolle und Planung basiert, sondern auf Adaptivität, Mustererkennung und der Fähigkeit, emergente Entwicklungen zu gestalten.

  • Falsche Erfolgsindikatoren: Traditionelle Leistungsbewertungen basieren häufig auf überholten Kompetenzmodellen, die vergangene Erfolge überbewerten. Ein Beispiel sind klassische 360°-Assessments, die oft dazu führen, dass sich Führungskräfte in ihrer Komfortzone bestätigt fühlen, statt auf künftige Herausforderungen vorbereitet zu werden.
  • Mangelnde Kontextsensibilität: Viele Führungstrainings sind zu allgemein und berücksichtigen nicht, dass Leadership stark vom jeweiligen Umfeld abhängt. Die gleiche Strategie kann in einem innovativen Tech-Startup erfolgreich sein, in einem regulierten Industrieunternehmen jedoch scheitern.
  • Die Illusion von Kontrolle: Viele Programme vermitteln eine Form von „best practices“, die suggerieren, dass Führung durch feste Regeln und Prinzipien steuerbar ist. Tatsächlich erfordert effektives Leadership heute jedoch ein hohes Maß an situativer Intelligenz und ein dynamisches Mindset (Dweck, 2006).
    Die Zukunft gehört nicht denjenigen, die bestehende Prozesse optimieren – sondern denen, die neue Wege beschreiten. Doch was genau zeichnet solche Führungskräfte aus?

Drei entscheidende Fragen für zukunftsfähige Führung

Basierend auf empirischen Studien zur Führungseffektivität (McKinsey & Company, 2017; Harvard Business Review, 2021) lassen sich drei Schlüsselfaktoren identifizieren, die über nachhaltigen Führungserfolg entscheiden. Diese lassen sich in drei zentrale Fragen übersetzen:

1. Wo antizipieren Sie den nächsten Wandel?

Exzellente Führungskräfte reagieren nicht auf Veränderungen – sie erkennen sie, bevor sie eintreten. Sie investieren bewusst Zeit und Ressourcen, um Muster und Trends frühzeitig zu identifizieren. Die Antwort auf diese Frage spiegelt sich im persönlichen Kalender wider:

  •  Mit wem interagieren Sie regelmäßig?
  • Über welche Themen sprechen Sie?
  • Welche Entwicklungen verfolgen Sie aktiv?

Studien zeigen, dass Unternehmen mit einer systematischen „Future Sensing“-Praxis signifikant erfolgreicher sind (Day & Schoemaker, 2019).

2. Wie divers ist Ihr Netzwerk?

Führung bedeutet, Verbindungen zu Menschen mit unterschiedlichsten Perspektiven herzustellen. Dennoch umgeben sich viele Leader vor allem mit Gleichgesinnten – sei es aufgrund gemeinsamer Werte, einer ähnlichen Ausbildung oder vergleichbarer beruflicher Erfahrungen. Empirische Forschung zeigt jedoch: Je diverser das persönliche und professionelle Netzwerk einer Führungskraft ist, desto innovativer sind ihre Lösungsansätze (Burt, 2004). Unterschiedliche Perspektiven ermöglichen eine tiefere Mustererkennung und verhindern „Groupthink“.

3. Sind Sie bereit, erfolgreiche Praktiken der Vergangenheit loszulassen?

Viele Führungskräfte klammern sich an bewährte Methoden – oft, weil sie in der Vergangenheit damit erfolgreich waren. Doch eine sich schnell wandelnde Welt erfordert nicht nur die Bereitschaft zum Wandel, sondern den aktiven Mut, bekannte Erfolgswege hinter sich zu lassen. Eine Studie der London Business School (2019) zeigte, dass Führungskräfte, die aktiv veraltete Strategien über Bord werfen, um 32 % resilienter gegenüber Marktveränderungen sind.

Die Zukunft gehört den Gestaltern

Führung im 21. Jahrhundert erfordert kein festes Set an Kompetenzen – sondern eine bestimmte Haltung. Erfolgreiche Leader zeichnen sich nicht durch Perfektion oder Allwissenheit aus, sondern durch Neugier, Adaptivität und den Mut, sich selbst immer wieder neu zu erfinden.
Mehr als jedes Leadership-Training entscheidet die Beantwortung dieser drei Fragen über nachhaltigen Erfolg. Denn exzellente Führungskräfte bereiten sich nicht auf die Planbarkeit von gestern, sondern auf die Möglichkeiten von morgen vor.
Es ist eine philosophische Wahrheit, dass Wandel das einzig Beständige ist. Doch wie oft handeln wir im Wissen um diese Wahrheit? In der griechischen Philosophie war es Heraklit, der betonte, dass niemand zweimal in denselben Fluss steigen kann. Und doch verbringen viele Führungskräfte ihr Berufsleben damit, gegen die Strömung anzukämpfen, anstatt die Kunst zu beherrschen, mit ihr zu fließen.

John Hatties Forschung zeigt, dass die Reflexion der eigenen Rolle und Haltung entscheidender für den Erfolg ist als jede einzelne Strategie oder Methode. Hattie, einer der einflussreichsten Bildungsforscher der Gegenwart, analysierte in seiner bahnbrechenden Meta-Meta-Studie „Visible Learning“ mehr als 800 Meta-Analysen, die wiederum auf Zehntausenden von Einzelstudien basieren. Sein Werk gilt als eine der umfassendsten empirischen Untersuchungen zum Thema Lernerfolg. Dabei stellte er fest, dass nicht einzelne Lehrmethoden oder Techniken den entscheidenden Unterschied machen, sondern vielmehr die Selbstreflexion, die innere Haltung und die Beziehungsqualität zwischen Lehrkraft und Lernenden.

Doch warum sollte diese Erkenntnis nicht auch für Unternehmen und Führungskräfte relevant sein? Schließlich sind auch Führungskräfte in einer lehrenden und gleichzeitig lernenden Rolle: Sie inspirieren, formen Unternehmenskulturen und gestalten Prozesse, die andere befähigen sollen, ihre Potenziale voll auszuschöpfen. Hatties Ergebnisse zeigen, dass Lern- und Leistungsprozesse dann besonders effektiv sind, wenn Führungspersonen sich nicht nur als Wissensvermittler, sondern als aktive Gestalter von Entwicklungsräumen verstehen.

Vielleicht sollten wir nicht nur Fragen nach dem „Wie“ der Führung stellen, sondern auch nach dem „Warum“. Warum führen wir? Warum streben wir nach Einfluss? Ist es die Macht, ist es die Kontrolle, oder ist es die tiefe, menschliche Sehnsucht, etwas zu gestalten, das bleibt? Deshalb: Fragen Sie sich nicht nur, wie Sie heute eine bessere Führungskraft sein können, sondern wie Sie Ihre eigene Philosophie des Führens entwickeln. Denn wahre Führung beginnt nicht in Meeting-Räumen, sondern in der Reflexion über das, was Sie wirklich antreibt.

(Thomas Lambert Schöberl, wissenschaftlicher Mitarbeiter der Münchner Akademie für Business Coaching)

Literatur

• Burt, R. S. (2004). Structural holes and good ideas. American Journal of Sociology, 110(2).
• Day, G. S., & Schoemaker, P. J. H. (2019). See Sooner, Act Faster: How Vigilant Leaders Thrive in an Era of Digital Turbulence. MIT Press.
• Dweck, C. S. (2006). Mindset: The New Psychology of Success. Random House.
• Gurdjian, P., Halbeisen, T., & Lane, K. (2014). Why leadership-development programs fail. McKinsey Quarterly.
• Hattie, J. (2008). Visible Learning: A Synthesis of Over 800 Meta-Analyses Relating to Achievement. Routledge.
• McKinsey & Company (2017). Leadership Development in the 21st Century. McKinsey Report.
• Schreyögg, G., & Koch, J. (2020). Management: Grundlagen der Unternehmensführung (8. Auflage). Springer Gabler.
• Uhl-Bien, M., & Marion, R. (2009). Complexity leadership in bureaucratic forms of organizing. The Leadership Quarterly, 20(4).